Leseprobe aus dem Buch "On The Road"

 

                                                                              Volksmusik aus Thüringen


Am Ende ist uns wohler, wenn wir nicht so viel von der Welt wollen und das, was sie uns freiwillig gibt, als gelegentlichen Fund betrachten.“
Das schrieb einst der Schweizer Dichter Gottfried Keller.


Wäre Keller nicht schon seit über einhundert Jahren tot, könnte man annehmen, er wäre erst kürzlich in der norddeutschen Kleinstadt gewesen, in der diese Geschichte spielt. Da der Flecken idyllisch inmitten kleiner Seen liegt, ist er bei Touristen sehr beliebt, die vor allem in den Sommermonaten in großer Zahl den Ort und die Umgebung bevölkern. Am kleinen Stadthafen bietet die Kurverwaltung in der warmen Jahreszeit regelmäßige Hafenkonzerte, und zwar immer sonntags am Nachmittag. Ich hatte die Ehre, eines dieser Hafenkonzerte zu bestreiten. Der Veranstalter hatte sich im Vorfeld mein Programm „Perlen des Folkrock“ ausgewählt. Das ist ein Mix aus Coverversionen der amerikanischen und britischen Singer/Songwriter-Szene der Siebziger Jahre, ergänzt um eigene Songs.
Wie üblich schicke ich Wochen vorher diverse Poster und Flyer hin sowie per Mail den Pressetext für das erwähnte Programm. Dieser Text wurde eine Woche vorher in der örtlichen Presse als Ankündigung abgedruckt. Der Redakteur hatte „Folkrock“ ersetzt durch „Folk Music“, was ja zunächst nicht falsch ist.
Niemals hätte ich ahnen können, was dieser Text auslöst!
Am besagten Sonntag waren bei meiner Anreise schon viele Gäste da. Das war auch dem Umstand geschuldet, dass sich direkt am Hafen ein Eiscafé befindet, und zwar mit einer großen Sonnenterrasse.
Ein wenig verwundert war ich darüber, dass eine Reihe mit Stühlen aufgebaut war, die erkennbar nicht zum Eiscafé gehörten. Das erinnerte mich an diverse Buchlesungen, Vernissagen oder ähnliche Anlässe, wo auf den Plätzen in der ersten Reihe Namensschilder für die VIP-Gäste liegen.
Auf diesen Stühlen nahmen kurz vor Beginn mehrere Besucher im gehobenen Alter Platz. Das schienen die städtischen Würdenträger zu sein. Welch eine Ehre für mich!
Kurz vorher hatte ich einen dieser Stühle für meine Zwecke okkupiert, indem ich Programmkarten darauf drapierte, an denen sich die Besucher bedienen konnten.
Ein älterer Herr kam, sah sich kurz um, nahm den Stuhl und ging damit zu seinen Freunden.
Er hatte meine Karten einfach zu Boden geworfen! Dabei schickte er noch einen strafenden Blick in meine Richtung. Ich hatte offensichtlich seinen Stuhl benutzt, auf den er sicher ein Jahres-Abo besaß.
Ich begann pünktlich mit meinem Programm. Ich hatte den Eindruck, mit dem Start auf die Minute zunächst Pluspunkte gesammelt zu haben. Doch bereits beim zweiten Lied schlichen sich leise Zweifel ein. Einige Gesichter in der ersten Reihe verfinsterten sich. Was lief hier falsch?
Das besagte Programm besteht fast ausschließlich aus englischsprachiger Musik. Sollte das der Grund sein? Das Auditorium begann sichtbar zu bröckeln. Der Nachzügler, dem ich den Stuhl geklaut hatte, ging als erster. Ihm schloss sich eine Dame an.
Beide liefen laut schimpfend Richtung Stadtzentrum und schüttelten dabei immer wieder den Kopf. Das war noch weit vor der Pause!
Unter den Zurückgebliebenen grummelte es. Ich sah, wie einige erregt miteinander sprachen. Eine Dame hatte scheinbar den Entschluss gefasst, die Situation zu retten. Nicht nur, dass sie versuchte, in meine Richtung zu lächeln, sie begann, auf ihrem Stuhl im Walzertakt zu schunkeln.
Das Lied hatte zwar unüberhörbar keinen Walzertakt, aber egal, warum soll ich päpstlicher sein als der Papst?
Sie versuchte, ihre Nachbarn links und rechts unterzuhaken. Diese entzogen sich ihrer Liebesmüh und pressten krampfhaft ihre Arme an den Körper.
Die einsame Stimmungskanone schunkelte tapfer allein weiter.
Aber sie hatte keine Chance. Die vorwurfsvollen Blicke von rechts und links brachten sie schließlich zum Innehalten.
Das muss das Signal gewesen sein. Wie auf ein geheimes Zeichen hin erhob sich die gesamte erste Reihe und verließ den Ort des Geschehens.
Ich gebe zu, ich war etwas ratlos. Es hatte doch eine klare Ankündigung gegeben, welche Musik an diesem Tag geboten wird, oder?
In der Pause stellte sich mir ein Herr vor als der Redakteur des örtlichen Tageblatts. Er sei schon seit vielen Jahren in Pension und schreibe noch hin und wieder für die Zeitung, vor allem auch bei Kulturthemen.
Er hatte die Ankündigung geschrieben. Er sagte etwas kryptisch: „Lieber Herr Schirneck, Erwartungshaltung ist eine große Sache. Ob die Erwartungen dann erfüllt werden, eine andere.“
Im Laufe des Gespräches wurde mir einiges klarer.
Aus der „Folk Music“ war in kurzer Zeit etwas geworden, was den Erwartungen der Stammgäste dieser Hafenkonzerte eher entsprach. Das war ein wenig wie Stille Post oder Reise nach Jerusalem. Es kursierte dann tatsächlich innerhalb der Musikfreunde der Stadt die freudige Nachricht: „Da kommt einer aus Thüringen und spielt Volksmusik“.
Damit war die Situation von vornherein verfahren.
Denn selbst wenn ich von dieser wunderbaren Wandlung im Vorfeld erfahren hätte – Volksmusik aus Thüringen! diesem hohen Anspruch konnte ich niemals gerecht werden.
Natürlich war nach diesen Erklärungen des Redakteurs in mir deutlich das Bedauern aufgekommen, dass ich nicht Mäuschen in der ersten Reihe hatte spielen können. Das wäre sicher sehr amüsant gewesen!
Das Glück winkte dann aber doch in Gestalt von Freunden aus Sachsen-Anhalt. Diese machten in der Nähe Urlaub und saßen am Sonntag in Nahdistanz zu den Musikfreunden aus dem Ort. Daher konnten sie einen Großteil der Dialoge verstehen, zumal die Unterhaltung mitunter auch ziemlich lautstark geführt wurde.
Überliefert sind folgende Beiträge:
Heute endlich mal wieder was für uns!“
„Nicht wie letztens die Truppe mit ihrem komischen Blues, oder was das sein sollte…“
„Noch schlimmer, das war Dschäss, nicht zum Aushalten!“
„Wisst ihr, ob Rudi noch kommt?“
„Na hoffentlich nicht! Wenn der sieht, dass der Thüringer einfach seinen Stuhl weggenommen hat, der wird zur Sau!“
„So, jetzt mal Ruhe, es scheint loszugehen.“
„Ach guck, da kommt Rudi doch noch!“
„Moin, Rudi!“
„Was ist denn das für eine Sprache, die der da singt?“
„Keine Ahnung, aber wie Deutsch klingt das nicht.“
„Ihr habt alle keine Ahnung, das ist nämlich Englisch!“
„Wieso denn Englisch? Wollen die uns auf den Arm nehmen? Volksmusik aus Thüringen, in Englisch? Die spinnen doch!“
„Die Zeitung ist schuld!“
„Wieso die Zeitung?“
„Na, die mit ihren Druckfehlern.“
„Werner hat recht. Volksmusik haben die mit ‚F‘ geschrieben. Das musste dir mal überlegen – in der Zeitung!“
„Typisch Tageblatt! Denen kannst du auch nicht mehr alles glauben!“
„Ilse! Höre auf zu schunkeln!“
„Typisch Ilse! Die spinnt doch!“
„Die macht immer, was sie will!“
„Noch so Zeugs in Englisch und ich gehe!“
„Warte doch, vielleicht kommt noch was Deutsches.“
„Schade um die Zeit, ich gehe jetzt!“
„Ich gehe mit!“
„Ich auch!“ „Ich auch!“ „Ich auch!“


Liebe Ilse! Wo auch immer Du heute bist, ich ziehe meinen Hut und verneige mich tief vor Dir für deinen Mut an diesem Sonntagnachmittag.


Hat nun Gottfried Keller Ähnliches erlebt?
Oder sollte am Ende etwa Heinrich Böll recht haben? -
„Wir geben uns zu wenig Rechenschaft darüber, wie viele Enttäuschungen wir anderen bereiten.“
Wer weiß das schon?